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Beitrag vom 24.08.2012
Auf Messers Schneide - Religionsfreiheit
AVIVA-Redaktion
Für Religionsfreiheit, gegen Kriminalisierung und Bevormundung findet am 9. September 2012 um 11 Uhr eine Kundgebung am Bebelplatz in Berlin statt. Das Jüdische Forum für Demokratie ...
... und gegen Antisemitismus sowie weitere UnterstützerInnen, darunter AVIVA-Berlin, rufen auf zu Toleranz, Weltoffenheit und Gelassenheit gegenüber einer Tradition, die für die jüdische und muslimische Identität essentiell ist.
Auf der Kundgebung werden sprechen:
Lala Süsskind (Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus)
Kenan Kolat (Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland)
Rabbiner Yitzchak Ehrenberg
Rabbiner Tovia Ben-Chorin
Nach dem umstrittenen Kölner Beschneidungs-Gerichtsurteil ist deutschlandweit eine heftige Diskussion entbrannt, wie mensch künftig mit der Beschneidung von Jungen umgehen will, die vor allem in Judentum und Islam praktiziert wird.
An dieser Stelle veröffentlicht AVIVA-Berlin den Aufruf zur Kundgebung des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) und des Organisationsteams (s.u.) der Kundgebung:
"Wir sind entsetzt über eine von Vorurteilen und diffusen Ängsten geprägte Diskussion, die teils hysterische Züge annimmt und antisemitische und antiislamische Stereotypen bemüht, wie sie für eine aufgeklärte und humanistisch gebildete Gesellschaft - besonders nach der Schoa - absolut indiskutabel sein sollten. Juden und Muslime stehen urplötzlich da als ´Kinderquäler´, als schlechte und lieblose Eltern, die an wehrlosen Kindern angeblich archaische und blutige Rituale vollführen. Dabei ist der Eingriff selbst rein medizinisch weltweit akzeptiert und nicht zuletzt darum von der WHO empfohlen, die die Vorteile der Praxis betont, etwa was das Risiko einer Krankheits-Übertragung oder Hygiene allgemein angeht. Nachteile für die männliche Sexualität sind nicht nachweisbar.
Für Juden und Muslime hat die Beschneidung der Jungen eine zentrale identitätsstiftende Bedeutung - religiös wie kulturell. Es gibt schlicht keinen ´Leidensdruck´, der die Wogen der Empörung rechtfertigen würde. Das Kölner Urteil hat eine rechtliche Unsicherheit verursacht: das Jüdische Krankenhaus Berlin etwa hat die Beschneidungen bis zur Klärung ausgesetzt. Für Juden und Muslime ist es ein äußerst unerfreulicher Zustand, dass Beschneidungen so der Ruch des Illegalen oder gar der Menschenrechtsverletzung anhaftet.
Wir rufen auf zu Toleranz, Weltoffenheit und Gelassenheit gegenüber einer Tradition, die für die jüdische und muslimische Identität essentiell ist. Ohne die grundsätzliche Legalität der Beschneidung der Jungen ist in Deutschland kein jüdisches Leben möglich, kein muslimisches Leben und kein interkulturelles Miteinander.
Das Urteil des Kölner Landgerichts hat zwar keine rechtliche Bindungswirkung, die Rechtsunsicherheit für Eltern, Ärzte und Beschneider hat jedoch erheblich zugenommen, und es ist niemandem zuzumuten, sich auf die bloße Möglichkeit einer Straflosigkeit zu verlassen. Diese Situation wäre auch einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland unwürdig. Deshalb muss umgehend Rechtssicherheit geschaffen werden.
Wir fordern die lautstarken Beschneidungs-Gegner auf, sich eingehender mit Juden und Muslimen auseinanderzusetzen, anstatt vorschnelle Verbotsforderungen zu erheben. Wir fordern Respekt für unsere kulturellen und religiösen Traditionen. Und wir fordern Respekt für jüdische und muslimische Eltern, die ihre Kinder nicht weniger lieben als die Eltern der deutschen Mehrheitsgesellschaft dies tun. Wir wehren uns dagegen,
kriminalisiert oder als archaisch und blutrünstig hingestellt zu werden.
Für gegenseitigen Respekt und ein friedliches Miteinander!"
Veranstalter (alphabetisch):
Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA)
Das Organisationsteam
Dieser Aufruf wird unterstützt von (Auszug, alphabetisch, weitere UnterzeichnerInnen folgen/werden auf Facebook laufend aktualisiert):
American Jewish Committee (AJC)
Arbeitskreis jüdischer Sozialdemokraten Berlin-Brandenburg
AVIVA-Berlin, Online Magazin und Informationsportal für Frauen / Sharon Adler
Berliner Missionswerk/ Ökumenisches Zentrum, vertreten durch den Landespfarrer für interreligiösen Dialog, Pfarrer Dr. Andreas Goetze
Bundesverband Jüdischer Ärzte und Psychologen in Deutschland
Bundesverband Jüdischer Studierender in Deutschland (BJSD)
Chabad Bildungszentrum
Deutsche Aschkenas-Gesellschaft e. V.
Deutsch-Israelische Gesellschaft Arbeitsgemeinschaft Berlin und Potsdam
Deutsche Schüler und Studenten Union (DSSU) Osnabrück
Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO)
Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer
Global Muslim Jewish Friendship Forum (GMJFF)
Honestly concerned
Jüdisches Filmfestival Berlin & Potsdam
Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA)
Jüdische Gemeinde zu Berlin
Jüdische Volkshochschule, Berlin
Jugendzentrum Olam
Jung und jüdisch
Lauder Yeshurun
Lichtig - Verlag, Nea Weissberg
Raoul Wallenberg Loge – B´nei B´rith
Mirjam Reusch-Helfrich, Deutschlandradio Kultur
Synagoge Oranienburger Str.
Synagoge Rykestr.
The Foundation for Ethnic Understanding (FFEU), New York
TUS Makkabi Berlin e.V.
Das Organisationsteam (alphabetisch):
Chaja Boebel
Max Doehlemann
Tamara Guggenheim
Michael Jänecke
Sigmount Königsberg
Esther Kontarsky
Natalie Patzek
Levi Salomon
Lala Süsskind
Ansprechpartner für die Presse:
Levi Salomon, levi.salomon@gmail.com, 0170-6327421
Max Doehlemann, max_doehlemann@web.de, 0172-8093752
Weitere, ständig aktualisierte Infos auf Facebook:
www.facebook.com
Anlässlich der Sitzung des Ethikrates des Deutschen Bundestages am 23. August 2012 nimmt das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus (JFDA) erneut Stellung zum Kölner Beschneidungsurteil und der laufenden Debatte:
"Das Urteil des Kölner Landgerichtes, das Beschneidungen aus religiösen Gründen als unzulässige Körperverletzungen erachtet, hat Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt in Aufruhr versetzt. Es war auch der Beginn einer zu weiten Teilen emotional geführten Debatte, welche teilweise die Grenze zum Antisemitismus überschritten hat. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, bezeichnet die laufende Debatte um religiöse Beschneidungen als ´Toleranztest für unsere Gesellschaft´. Für das Judentum ist die Beschneidung mehr als eine Frage der Tradition. Sie gehört zum Kern des jüdischen Glaubens und der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk.
Jüdische Eltern, die ihre Knaben gemäß dem jüdischem Gesetz am achten Lebenstag beschneiden lassen, ermöglichen ihm erst dadurch Teil der jüdischen Gemeinschaft zu werden. Gedeckt wird dies auch durch das Recht der Eltern auf die Bestimmung der Konfession ihrer Kinder.
Dabei handelt es sich nicht um einen Zwang. Die spätere Entscheidung des religionsmündigen Kindes wird durch eine Beschneidung nicht vorweggenommen.
Ein weiteres Argument, welches im Laufe der Debatte häufig gefallen ist, war der Hinweis auf die Körperverletzung des Kindes bei der Beschneidung. Doch hier muss man zwischen juristischen und emotionalen Begriffen unterscheiden.
Die mehr als 700 Unterzeichner des Offenen Briefes (veröffentlicht in der FAZ am 27. Juli) gegen die Beschneidung setzen sich für eine ´Versachlichung der Diskussion´ ein, bewirken jedoch das Gegenteil indem sie pauschal von ´(sexueller) Gewalt´ sprechen. Nicht nur, dass diese Juristen und Ärzte die Zirkumzision unzulässig mit der weiblichen Genitalverstümmelung gleichsetzen, sie unterstellen außerdem jüdischen und muslimischen Eltern ´eine bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung´ gegenüber ihrem eigenen Kind.
Die Unterzeichner stellen fest: ´Man tut Kindern nicht weh!´ Damit wird jüdischen und muslimischen Eltern latent unterstellt, sie würden diesem Grundsatz nicht folgen. Doch im Judentum genießt das Kindeswohl wie auch bei anderen Religionen oberste Priorität. Dieses mangelnde Vertrauen in die Fürsorge und Empathie jüdischer Eltern verletzt nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch jegliche Grundsätze einer sachlichen Diskussion. In dem Offenen Brief werden Grenzen überschritten, die die laufende Debatte emotionalisieren anstatt sie zu versachlichen.
Leider können solche unsachlichen Argumentationslinien auch einen Nährboden für Trittbrettfahrer bieten. Es ist erschreckend, wie im Zuge dieser Debatte vor allem im Internet antisemitische Vorurteile verbreitet werden. So schreibt etwa die NPD Niedersachen auf ihrer Homepage: ´Die NPD […] wünscht allen Verstümmelungslobbyisten, religiös motivierten Tierquälern und anderen Fanatikern, die uns Deutschen ihre Vorstellung von Religionsfreiheit aufzwingen wollen, eine gute Heimreise!´
Besonders alarmierend ist die Anzeige gegen Rabbiner David Goldberg aus Hof, der wegen seiner Tätigkeit als Mohel (jüdischer Beschneider) von einem der 700 Unterzeichner des Offenen Briefes angezeigt wurde. Zum ersten mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde nun ein Rabbiner wegen der Ausübung seiner religiösen Pflichten bei der Staatsanwaltschaft angezeigt, berichtet die Jüdische Allgemeine am 21. August. Dies macht die Dringlichkeit einer gesetzlichen Regelung zur Knabenbeschneidung deutlich.
Es ist nun die Aufgabe der Politik schnell Rechtssicherheit für jüdische Eltern sowie für Ärzte und Beschneider zu schaffen. Dabei sollten die politisch Verantwortlichen das Kölner Urteil kritisch betrachten. Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat kommentiert, dass das Urteil ´nicht hinreichend die Religionsfreiheit berücksichtigt, die […] grundsätzlich vorbehaltlos und ohne weitere Einschränkung gewährleistet wird.´ Der Rechtsprofessor Jan Roggenkamp betont, dass die Richter es sich mit dem Urteil zu leicht gemacht haben, es sei ´handwerklich unsauber´. Und auch der evangelische Theologieprofessor Jens Schröter ist der Meinung, dass die Richter die Bedeutung für die Religion im Gegensatz zur Stärke des Eingriffes falsch abgewogen haben. Das Kölner Landgericht hat sich bei der Urteilssprechung einseitig auf die umstrittene Rechtsauslegung des Juristen Holm Putzke gestützt.
Eine gesetzliche Regelung muss die Religionsfreiheit sichern, ohne in innere Angelegenheiten des Judentums einzugreifen. ´Wir sind bereit mit allen Menschen über das Thema zu diskutieren. Veränderungen des religiösen Ritus können aber nur aus einer Debatte innerhalb des Judentums resultieren. Wir lassen uns nicht von Außenstehenden vorschreiben, wie wir unsere Religion zu leben haben´, so Lala Süsskind, Vorsitzende des JFDA."
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
First Grass, dann das. Recht auf Beschneidung beschnitten. Sign the petition. Aufruf von Tamara Guggenheim, Brief an den Zentralrat der Juden in Deutschland. Artikel von Dr. med. Altschüler
(Quelle: JFDA, AVIVA-Berlin)